Was haben ein Klimakleber und ein SVP-Kantonsrat gemein? Sie jammern über die böse Öffentlichkeit, die ihr Tun skandalisiert. Und machen es sich etwas zu einfach.

Max Voegtli
Blöd gelaufen: Voegtli am Flughafen Zürich

Nehmen wir zunächst den Fall von Max Voegtli. Der 30-jährige Schweizer Klimakleber sucht als Umweltaktivist die Öffentlichkeit. Klebte sich an Ostern vor dem Gotthard auf die Strasse, überliess den Medien Bilder und Lebensläufe, damit die möglichst breit und personalisiert berichteten (etwa der Sonntagsblick. Botschaft: wir müssen das Klima schützen, es braucht dringende Massnahmen.

Blöd nur: Letzte Woche wurde Voegtli von einem Newscout fotografiert. Am Flughafen Zürich. Vor dem Abflug nach Paris. Später stellte sich heraus: Paris war nur der Umsteigeflughafen, von dort ging es für Voegtli weiter nach Mexiko.

Die Bigotterie wurde von den Medien dankbar aufgenommen. Der Heuchler, der Wasser predigt und Wein trinkt, ist eine dankbare Figur. Nach und nach kam zu Tage, dass Voegtli auch sonst gerne vereist: Von Reisen an ein Formel 1-Rennen oder nach China ist die Rede.

Jetzt jammert Voegtli rum und findet es eine Frechheit, dass er auf dem Flughafen fotografiert wurde. Er sei als Privatperson geflogen.

Nun, diese Ausrede ist zu billig. Seit ich das Wort Journalismus aussprechen kann, waren Beispiele wie das von Voegtli immer die Musterbeispiele dafür, wann Medien auch über Privates, sogar Intimes, berichten dürfen: Wenn Personen, die politisch das eine fordern, privat das Gegenteil tun. Klassisch ist der US-amerikanische Kongressabgeordnete, der Gesetze für mehr Homosexuellenrechte bekämpft, dann aber mit einem Stricher auf der Parktoilette erwischt wird. Voegtli gehört in diese Kategorie: Er sucht die Öffentlichkeit für seine politischen Forderungen. Ergo muss er sich gefallen lassen, dass er überführt wird, wenn er privat das Gegenteil dessen tut, was er von anderen verlangt.

Etwas komplizierter ist der Fall des Schwyzer Kantonsrates Beni Diethelm. Gegen ihn läuft ein Strafverfahren, der Antrag der Staatsanwaltschaft lautet auf vier Jahre Gefängnis. Diethelm soll einer Prostituierten CHF 4’200 für fünf Stunden Sado-Maso-Spiele bezahlt haben, dann lief das Ganze aus dem Ruder. Die Prostituierte hat Strafanzeige eingereicht, Diethelm habe sie so arg gewürgt, dass sie fast gestorben wäre, so sinngemäss die Anklage. Zudem hatte man 56 Sodomie-Bilder auf Diethelms Handy gefunden.

Auch Diethelm jammert und attackiert die Medien scharf. Die Anschuldigungen seien krass übertrieben und einseitig die Sicht der Klägerin, die Medien hätten ihn vorverurteilt, zudem handle es sich um eine private Angelegenheit. «Mein Sexleben gehört mir, nicht in die Öffentlichkeit», wird er auf SRF zitiert.

Tatsächlich ist Diethelms Fall komplexer. Zunächst ist da die Unschuldsvermutung, die einzuhalten auch von den Medien verlangt wird. Die Unschuldsvermutung ist ein Grundrecht und postuliert, dass jeder Mensch so lange als unschuldig zu gelten habe, bis ei Gericht seine Schuld rechtskräftig festgestellt hat. Die Artikel gegen Diethelm waren in weiten Teilen das, was in Deutschland als «Verdachtsberichterstattung» bezeichnet wird. Sie ist in Deutschland nur zulässig, wenn die Medienschaffenden auch aufwändig recherchiert haben, was gegen den Verdacht sprechen könnte.

Die Medienschaffenden berufen sich häufig auf die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, was allerdings ein zweischneidiges Schwert ist: Eben erst wurde in St. Gallen ein Anwalt durch den medialen Wolf gedreht. Er habe sich vor seiner Mitarbeiter nackig ausgezogen und im Büro onaniert, hiess es in der Anklageschrift. Das Gericht hat die Arbeit der aktivistischen Staatsanwältin dann in der Luft zerrissen. Die Vorwürfe seien nicht erhärtet, der Anwalt wurde freigesprochen. Sein Ruf ist gleichwohl kaputt, und auch wenn die Berichterstattung ohne Namensnennung erfolgte: Jeder Jurist in St. Gallen weiss, um wen es sich handelt.

Auch Diethelms Reputation ist durch die Verdachtsberichterstattung bereits weitgehendst zerstört. Seine Partei hat ihn aufgefordert, sein Kantonsratsmandat abzulegen, weil Diethelm aber nicht will, droht ihm ein Ausschlussverfahren.

Komplexer ist der Fall deshalb, weil bei Diethelm verschiedene Interessen aufeinanderprallen. Zum einen sein Anspruch auf eine faire Verteidigung, zum anderen aber auch der Anspruch der Öffentlichkeit, im Parlament, auch einem kantonalen, von Repräsentantinnen und Repräsentanten mit einem einwandfreien Leumund vertreten zu werden. Wenn Diethelm findet, sein Sexleben gehöre ihm und nicht an die Öffentlichkeit, stimmt das nur bedingt: Wenn sein Sexleben dergestalt ausartet, dass dabei andere zu Schaden kommen und ein Strafverfahren durchgeführt werden muss, dann hat die Öffentlichkeit sehr wohl ein berechtigtes Interesse, davon zu erfahren. Das hatte das Bundesgericht übrigens auch im Fall des ehemaligen Armeechefs Roland Nef festgehalten. Gegen ihn war ein Strafverfahren geführt worden, weil er seine Ex stalkte. Die Sonntagszeitung berichtete, Nef verlor seinen Job und das Gerichtsverfahren wegen Persönlichkeitsverletzung. Wenn der oberste Soldat des Landes derartige Charakterzüge aufweise, dann habe die Gesellschaft ein Recht, das zu erfahren, so das Bundesgericht sinngemäss.

Allerdings ist von den Medienschaffenden eine Abwägung im Einzelfall zu verlangen: Wie der St. Galler Anwaltsfall zeigt, ist auch bei Anklageschriften Vorsicht walten zu lassen. Gerade wenn bei Vieraugendelikten Aussage gegen Aussage steht. Diethelm verlangt zu Recht, dass das zu Zurückhaltung bei der Berichterstattung führen müsse. Und das auch dann, wenn sich der Beschuldigte aus prozesstaktischen Gründen auf entsprechende Medienanfragen nicht äussern will. – Eine solche Aussageverweigerung darf nicht einfach dazu führen, die Vorwürfe genüsslich auszubreiten und sich auf die Position zurückzuziehen, der Beschuldigte hätte sich ja äussern können. – Gleichzeitig bleiben aber im Fall Diethelm die 56 pornografischen Bilder auf seinem Handy.

Damit ist – und bleibt – klar: Wer als Politiker oder Aktivist das öffentliche Leben mitgestalten will, ist gut beraten, sich selbst so zu verhalten, dass sein Leben, auch sein privates, keinen Grund für Skandalisierungen bietet.