Diese Woche steht medial ganz im Zeichen eines Strafprozesses der besonderen Art: Vor Gericht steht – oder stünde der 25-jährige B.K., seit Jahren in den Medien als „Carlos“ bekannt.
In die Medien gezerrt wurde „Carlos“ vor sechs Jahren, in einem REPORTER des SCHWEIZER FERNSEHEN am 25.8. 2013 über die Arbeit von Jugendanwalt Hansueli Gürber. Dieser hatte sich, quasi als Auszeichnung für sein Lebenswerk, in dem Dokumentarfilm selbst darstellen dürfen mit einer Arbeit.
Einer seiner Schützlinge, ab diesem Moment unter dem Pseudonym „Carlos“ geführt, war ein damals minderjähriger notorischer Straftäter, der schon damals „das System“ an den Rande der Verzweiflung brachte. Mit einem „Sondersetting“ schien man seine Gewaltausbrüche unter Kontrolle zu bringen. Dazu gehörten beispielsweise Trainingsstunden in Thaiboxen, ein mehrköpfiges „rund-um-die-Uhr“ Betreuungsteam – zu Kosten von 29’000 Franken pro Monat.
Das war eine Zahl, die nicht nur die Volksseele zum Kochen brachte, sondern auch besten Ausgangspunkt für eine Boulevard-Skandalisierungsgeschichte bot, die der BLICK genüsslich aufnahm. Das Sondersetting wurde abgebrochen, „Carlos“ nach der Berichterstattung als „unguided missile“ betrachtet und zu seiner eigenen und der Sicherheit der Öffentlichkeit eingesperrt, zumindest bis das Bundesgericht den Entscheid kassierte.
Wieder in Freiheit, vermöbelte Carlos in einem Zürcher Tram einen Freund, kam wieder in die Mühlen der Justiz, wo er – wie früher auch schon – regelmässig alles kurz und klein schlug, was nicht bei 3 ausser Reichweite war: Zellen, Aufseher, Mitgefangene, you name it.
Das Verhalten des konstant Renitenten brachte ihm den erneuten Strafprozess ein, 29 Delikte bei 19 Vorfällen legt ihm Staatsanwalt Krättli zur Last und verlangt die ordentliche Verwahrung, weil er in Carlos eine Gefahr sieht und überzeugt ist: Carlos in Freiheit heisst, es ist nur eine Frage der Zeit, bis es Tote gibt. Eine Verantwortung, die heute kaum mehr jemand übernehmen will, weder Gerichtspsychologen und/oder -psychiater, noch Justizvollzugsbeamte, und auch nicht Richter.
Und auch die Journalisten nicht. Natürlich.
Gleichwohl bemühten sie sich dieser Tage immer wieder sehr, Carlos nicht Psychopathen, sondern armes Opfer des Justizsystems darzustellen. So verlangt Liliane Minor im TAGES-ANZEIGER (kostenpflichtig) peinlich naiv einen „kreativen Ansatz“ im Umgang mit Carlos – wie der aussehen könnte, verrät sie freilich nicht. Einzig, dass es „Fantasie, Mut und Geld“ brauche. Soll der Mann für jeden Gewaltakt an Sachen oder Menschen künftig eine Viertelstunde Fussmassage erhalten? Soll man ihn auf freien Fuss setzen – mit der Signalwirkung: Du musst nur lange genug alles kurz und klein schlagen, dann kommst Du raus? Man sieht: Kreativität einzufordern ist schnell in die Tastatur gehauen. Aber was das heisst? Fehlanzeige. Eine Sache zu Ende denken ist ganz offensichtlich nicht die Sache der Medien. Kritischer Journalismus in der Pseudofalle.
Die Haltung der Medienschaffenden ist indes nichts Neues. Es grüsst der Fall des Serienvergewaltigers Markus Wenger, der vor sechs Jahren zuletzt durch die Medien gegangen war. Wenger, ein Sexualstraftäter, war nicht nur aus dem Gefängnis ausgebüxt. Er hatte es auch geschafft, sich als resozialisierten und reuigen Menschen darzustellen, unter grosszügiger Mithilfe von Mathias Ninck, der am 29. Juli 2009 im MAGAZIN des TAGESANZEIGER (nicht online abrufbar) mit einer rührigen Reportage daraufhin geschrieben hatte, Wenger eine neue Chance zu geben.
Die erhielt er im Oktober 2010. Und nutzte sie, um schon ein halbes Jahr später erneut zu delinquieren und mehrere Frauen sexuell zu nötigen, zu schänden oder zu vergewaltigen. Die Journaille, die eben noch propagierte, Wenger solle eine neue Chance gegeben werden? Ninck erhielt 2010 den Zürcher Journalistenpreis für seine mutigen Artikel, die sich kritisch mit der dritten Gewalt auseinandersetzen (damit wir uns richtig verstehen: Kritischen Journalismus gegenüber der Justiz halte ich für mehr als nötig: die Frage ist nur: wie). Ansonsten aber? Schweigen. Das Zepter führten jetzt wieder die Skandalisierer, die dem Gericht genau das vorwarfen, was die andere Hälfte der Zunft eben noch gefordert hatte.
Wetten, es wäre auch dieses Mal nicht anders. Käme Carlos frei und produzierte ein neues Opfer- die Verständnisvollen hielten still. Die Skandalisierer forderten, die Richter in die Verantwortung zu nehmen.
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