Auch diese Woche stand ganz im Zeichen des Carlos-Prozesses am Bezirksgericht Dielsdorf. Natürlich liessen die Medienberichte nicht nach. 699 Artikel mit dem Stichwort „Carlos“ zählt die Schweizerische Mediendatenbank SMD zwischen dem 27. Oktober und dem 7. November 2019.
Eine der bemerkenswerteren Beiträge lieferte der CLUB des SCHWEIZER FERNSEHEN. Dort diskutierten bei Barbara Lüthi verschiedene Experten zum Thema. Nach abgestufter Peinlichkeit.
Interessant und ergiebig war der Auftritt der ehemaligen Carlos-Betreuerin Annalisa Oggenfuss. Sie hatte 2013 im damaligen Sondersetting (dessen Kosten von monatlich CHF 29’000.– zur Skandalisierung und einer extensiven Berichterstattung über den Fall geführt hatten) zusammen mit anderen Betreuern Brian betreut und war, wie sie nun einräumte, auch diejenige, die das heftig diskutierte Thaibox-Training für den Straftäter beantragte und schliesslich umsetzen konne. Es sei der einzige Weg gewesen, Brian zu erreichen, erzählte sie in der Sendung.
Und wichtig: Das Training habe sich Carlos verdienen müssen, indem er am Unterricht teilnahm, Hausaufgaben lösen und sich anständig benehmen musste. Interessant auch ihre Aussage, das Problem des Jugendlichen sei gewesen, dass es seine Eltern und insbesondere sein Vater, zu dem er eine enge Beziehung habe, nie geschafft habe, seinem Jungen Grenzen zu setzen und als Autorität akzeptiert zu werden.
Alle diese Tatsachen waren durchaus erhellend – alleine: Oggenfuss hätte wohl als Hilfsperson der Jugendanwaltschaft gar nie in der Sendung auftreten dürfen, untersteht sie doch in ihrer Tätigkeit dem Amtsgeheimnis – und gemäss Informationen der Zürcher Jugendanwaltschaft war sie von diesem nicht entbunden worden. Es darf also mit Spannung abgewartet werden, ob die Staatsanwalt gegen die redselige Betreuerin ein Strafverfahren einleitet. Da eine Amtsgeheimnisverletzung ein Offizialdelikt darstellt, müsste sie eigentlich. – Als Zeugen der Anklage könnte sie dann den ehemaliger Zürcher Oberstaatsanwalt Andreas Brunner laden, der ebenfalls an der Sendung teilnahm.
Peinlich wurden die Aussagen Oggenfuss‘, als sie den – nicht anwesenden – Oberjugendstaatsanwalt Riesen kritisierte und ihm vorwarf, er hätte in der Öffentlichkeit gelogen. – Genau so peinlich allerdings, dass die Moderatorin die unerwiderten Vorwürfe einfach so im Raum stehen liess.
Weniger ergiebig der Auftritt der Gerichtsreporterin Brigitte Hürlimann, die früher bei der NZZ, heute bei der REPUBLIK arbeitet und den Fall für das Medium verfolgt. Die Journalistin konnte ihre Sympathie für den Straftäter nicht verstecken, liess grosszügig belastende Momente gegen Carlos weg und empfand es dann als „unfair“, als Gerichts-Psychiater Frank Urbaniok – der differenzierteste und kompetenteste in der Runde – die entsprechenden Fakten nachlieferte. Erstaunlich war in bestimmten Momenten die Naivität Hürlimanns – beispielsweise, als sie fand, die Jugendanwaltschaft hätte halt nach dem Bekanntwerden des Sondersettings und der hohen Kosten für dieses flugs eine Medienkonferenz einberufen sollen, um die Umstände zu erklären.
Sowohl Urbaniok als auch Brunner machten sie darauf aufmerksam, dass die Situation so aufgeheizt war (Urbaniok sprach von einer „pogromartigen“ Medienlage), dass wohl eine solche Massnahme kaum die entscheidende Entlastung gebracht hätte. Auslöser der ganzen Berichterstattung war ein REPORTER-Film des SCHWEIZER FERNSEHEN am 25. August 2013, in dem Carlos als ein Beispiel für die Arbeit von Jugendanwalt Hansruedi Gürber erwähnt wurde. Brunner sah in dem Film (und das wohl zurecht) den Anfang allen Übels und bemängelte, dass niemand auf der Jugendanwaltschaft die Brisanz des Films realisiert hatte. – Bevor der Eindruck entstehen könnte, Brunner rede einer Geheimjustiz das Wort, in der nicht öffentlich werden dürfe, was der Massnahmenvollzug kostet, relativierte dieser aber bereits, die Problematik sehe er darin, dass Gürber als alter Hippie dargestellt wurde, der freimütig bekannte, auch selbst schon straffällig geworden zu sein und seine, sagen wir, spezielle private Lebenssituation ausführlich darstellte. Die Mischung der verschiedenen emotional ansprechenden Informationen hätten dann wohl die Skandalisierung erst ermöglicht.
Dass die Medien ein Teil des Problems seien, räumte auch SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch ein, der ansonsten allerdings vor allem alle anderen kritisierte und des Versagens bezichtigte: Von Staatsanwalt Krättli, der das jüngste Verfahren gegen Carlos führt, über den ehemaligen Zürcher Justizdirektor Martin Graf bis zu Oberjugendanwalt Riesen. Auf den Einwand von Urbaniok, es sei immer einfach, von der Seitenlinie zu kritisieren, wenn man selbst nicht in der Verantwortung stünde, reagierte Jositsch vor allem mit der hochnäsigen Bemerkung, er erwarte von einem Amtsträger in einem solchen Amt, auch einmal einen Mediensturm aushalten zu können und kenne viele Richter, die sich einen Sport daraus machen würden. Die Aussage zeigt die doppelte Arroganz Jostischs: Einerseits war er selbst nie in der Verantwortung und kritisiert andere, die sich der Verantwortung stellen. Zum anderen redet er Arroganz-Justiz das Wort, welche die Kritik und den Missmut der Bevölkerung nicht ernst nimmt. Das genau damit Justizinitiativen, die möglicherweise über das Ziel hinausschiessen, viel Zulauf erhalten, erscheint er zu verkennen.
Leider wenig zu Wort kam (und wenn doch, immer wieder von Lüthi unterbrochen) Benjamin Brägger, Experte für Strafvollzug und ehemaliger Gefängnis-Beamter. Immerhin konnte aber Brägger darauf aufmerksam machen, dass man mit den jetzt von vielen verlangten „kreativen Lösungen“ vorsichtig sein müsse: Es dürfe nicht das Signal gesendet werden, dass ein Straftäter nur lange genug delinquieren müsse, um dann eine Extrawurst zu erhalten. Im Zusammenhang mit den Vorwürfen insbesondere von Journalistin Hürlimann, die Vollzugsbeamten würden regelmässig viel zu hart gegen Carlos vorgehen, machte Brägger auch darauf aufmerksam, dass auch die Gefängnismitarbeiter das Recht auf Schutz und Respekt ihnen gegenüber hätten und sich der Strafvollzug nicht alles von einem Täter gefallen lassen könne.
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