Diese Woche wollen wir hier einer Geschichte von Blick-Ostschweiz-Korrespondent Marco Latzer nachgehen, die zeigt, wie sich heute Medien instrumentalisieren lassen – egal, ob die Geschichte stimmt oder nicht. Am Dienstag titelte der Blick gross: «Tagesmutter darf Kinder hüten – nur ihr eigenes nicht.» und als Überzeile: «Polizisten nahmen Angi K. (45) ihre Tochter Nora (4) weg.

Auch im Artikel selbst geht es so weiter: «Angie K. wurde unter Zwang von ihrer Nora (3) getrennt. – Abgesehen davon, dass das Kind also einmal 4 und einmal 3 Jahre alt ist: Die Tonalität der Berichterstattung ist klar. «Es fühlte sich an, als würde jemand einem das Herz herausreissen. Ich schrie wie am Spiess nach meiner Tochter», wird die Kindsmutter zitiert.

Fünf Polizisten hätte es gebraucht, und die «Rückführung lief wie Entführung ab», insinuiert der BLICK.

Der Journalist ist sich deshalb sicher: «Nicht, weil die Schweizerin ein schlechtes Mami wäre, sondern wegen Zoff mit ihrem Ex», habe sie das Sorgerecht für ihr eigenes Kind verloren. Und weiter im Text: «Für Angie K. fühlt sich die Rückführung dennoch wie eine Entführung an.»

Armes Mami, böser Papi?

Mitnichten. Der Bericht muss nämlich einräumen, dass hinter der Rückführung ein längerer Rechtsstreit steht und ein Gerichtsurteil des Oberlandesgerichts Dresden. Es war – immer gemäss BLICK, das Urteil ist nicht publiziert – zum Schluss gekommen, dass die Mutter «bindungsintolerant» sei und eine Beziehung zwischen Vater und Tochter verhindern wolle. Zudem hält das Gerichtsurteil – immer noch gemäss BLICK fest, dass der Umzug der Kindsmutter im Jahre 2017 – ohne Einwilligung des Kindsvaters – «illegal» war. Als Konsequenz hat es der Mutter das Sorgerecht entzogen.

Das ist dann doch erstaunlich und will irgendwie nicht in die Geschichte passen, denn sowohl die deutschen wie die Schweizer Gerichte sind nicht eben als väterfreundlich bekannt. Bis ein deutsches Oberlandesgericht zu einem solchen Urteil kommt, muss also mutmasslich einiges vorgefallen sein. – Zumindest ein gemeinsames Sorgerecht wird in aller Regel auch bei strittigen Verhältnissen eingeräumt und einem Elternteil nur entzogen, wenn es offensichtlich dem Kindswohl zuwider handelt. Dem freilich geht der BLICK nicht nach – wohl gemäss dem geflügelten Wort: «Recherchiere Dir Deine Geschichte nicht zu Tode.»

Viel besser passt da ein «irritierendes» Video, das die Kindsmutter dem BLICK zeigt und in dem zu sehen sei, wie Angie K. im Januar versuche, die Tochter für einige Stunden an den Vater zu übergeben. «Das Mädchen schreit sich die Seele aus dem Leib, lässt sich nicht beruhigen», schreibt BLICK-Reporter Mario Latzer. Und die Kindsmutter gibt zu Protokoll: «Sie hatte danach tagelang Panikanfälle.»

Für Experten wäre das ein weiteres Indiz für die Bindungsintoleranz der Mutter. Denn Fachleute erklären immer wieder, dass solche Anfälle von Kindern häufig darauf zurückzuführen sind, dass die Kinder von dem einen Elternteil negativ gegen den anderen Elternteil beeinflusst wurden – statt dass der eine Elternteil das Kind positiv auf den Kontakt mit dem anderen Elternteil vorbereitet

Soviel Fachwissen oder Recherche wäre freilich etwas viel verlangt – und würde nur die einfache Opfer-Täter-Dramaturgie stören. Die Mutter darf dafür sagen: «Ihm (dem Vater) geht es nicht um Nora. Er will einfach mich demütigen.» Und der BLICK schiebt nach: «Tatsächlich: Aus den deutschen Akten geht hervor, dass es zwischen Nora und dem Vater bereits kaum Kontakte gab, als das Mädchen noch in Dresden lebte.»

Auch hier heisst es, kritisch zu lesen: «Aus den deutschen Akten» tönt zwar nach offiziellem Dokument. «Bei den Akten» sind aber regelmässig nicht nur Gerichtsbeschlüsse oder Behördenpapiere, sondern eben auch die Rechtsschriften der Streit-Parteien. Dass die Kindsmutter die eben zitierte Behauptung aufstellt, wäre nicht weiter verwunderlich. – Solche Aussagen finden sich als Parteienbehauptung wohl in praktisch jedem Sorgerechtsstreit.

Heisst das aber auch, dass die Aussage stimmt? Natürlich nicht. In einem Sorgerechtsverfahren darf jede Partei behaupten, was sie will. Einen gewissen Aussagewert hätte dieser Punkt deshalb erst, wenn das Gericht dies in seinem Entscheid als Sachverhalt festgestellt hätte. Dann hiesse es aber in dem Text nicht: «Tatsächlich: Aus den Akten geht hervor…». Sondern: «Tatsächlich: Auch das Oberlandesgerichts Dresden stellt fest, dass…»

Zwischenfazit: Entweder fehlt es dem Journalisten also an Detailgenauigkeit. Oder aber er versucht seine Leserschaft zu manipulieren, indem er einer einseitigen Behauptung der Kindsmutter ein Etikett des «Offiziellen» umzuhängen versucht.

Wieder in die einseitige Erzählung passt dann die Quintessenz der Mutter: «Von ihrem Mami entrissen zu werden, ist sicher nicht das Beste für meine Tochter.» – Dass sie es aber war, welche das Kind beim illegalen Umzug 2017 ihrem Vater entrissen hatte, bleibt unerwähnt.

Nun mag man einräumen, das Oberlandesgericht Dresden habe in dieser Sache falsch, vielleicht sogar willkürlich entschieden und das Kindswohl nicht berücksichtigt. Nur: Wenn das der Vorwurf wäre, muss er in der Geschichte auch entsprechend formuliert werden. Das allerdings unterlässt der Journalist und belässt es bei Anschuldigungen zwischen den Zeilen.

Als Fazit bleibt ein übler Nachgeschmack. Der BLICK macht sich mit dieser Geschichte zum unkritischen Sprachrohr einer Mutter, die ihrem Kind den Vater entzogen und es illegal ins Ausland entführt hat, wie das deutsche Oberlandesgericht in Dresden feststellt. Der Vater kommt nicht zu Wort – er sei nicht erreichbar gewesen, heisst es im Bericht dazu lapidar.

Der Beitrag zeigt aber auch die Problematik des Storytelling, wie es Medien heute gerne berichten: Die Ausgewogenheit ist nicht gefragt, dafür aber eine süffige Geschichte, die einen tragischen oder glücklichen Helden hat. Die Leserschaft soll sich mit ihm oder ihr identifizieren können – dafür werden problematische Aspekte dann auch gerne einmal ausgeblendet.

So schnell wird aus einer Täterin ein Opfer – und aus einem Medientitel das Sprachrohr einer Kindsentführerin.